Von Renate Wullstein
Leseprobe aus den Paretzer Tagebüchern
"Verlag Neues Leben Berlin
Vom 25. bis 28.10.83 findet unsere diesjährige Prosa-Werkstatt statt, zu der wir Sie hiermit herzlich einladen. Hauptsächlich werden wir wieder neue Texte zur Diskussion stellen.
Bitte teilen Sie uns auf beiliegender Karte mit, ob Sie teilnehmen und ob Sie lesen werden.
Die Werkstatt findet im Schriftstellerheim „Friedrich Wolf“ in Petzow statt.
Man fährt mit dem Schnellverkehr von Berlin-Karlshorst oder Schönefeld bis Potsdam-Hauptbahnhof.
Von dort mit dem Bus bis Petzow, Holländer Mühle.
Die Anreise sollte
möglichst bis 12.00 Uhr erfolgen.
Mit freundlichen Grüßen
Walter Lewerenz
Cheflektor"
Ich freue mich jedes Mal auf diese Werkstatt: Eine Woche bewirtet werden und vielleicht ein Flirt. Ich kam mit dem Bus über Potsdam am Vormittag an. Dort war ein Badezimmer, und ich stieg
gleich in die Wanne, welcher Luxus. Das Schriftstellerheim liegt am See. Es ist eine ehemalige jüdische Villa, glaube ich. Denn nach ´33 gehörte sie Marika Rökk. Über eine Terrasse kommt man in
einen großen Raum mit Parkett und Kamin, mit Sitzgruppen aus Kunstleder und flachen Tischen. Die Zimmer sind in der ersten Etage. Die Verlagssekretärin saß im Flur mit einer Liste für die
Zimmerverteilung. Ich sagte, ich wolle mit Maja Wiens auf ein Zimmer, und sie war einverstanden. Maja war noch nicht angekommen. Ich sah mich um. All die Leute, Bekannte und Unbekannte. Zum
Mittag im Speisesaal setzten sich an meinen Tisch Wolfgang Herzig (der dritte oder vierte neue Chefredakteur von Temperamente), und Müller, einer von den Redakteuren. In den letzten zwei Jahren
hatte ich nicht gelesen, weil Cheflektor Lewerenz mich in Dresden derartig runtergeputzt hatte, dass mir vor versammelter Mannschaft die Tränen liefen. Das wollte ich nie mehr erleben. Jetzt
fühlte ich mich sicherer. Die Adam, meine Lektorin, sagte mir beim letzten Treff, ich sei mal wieder dran. Nun gab es kein Zurück. Ich würde “Freitagnachmittag” lesen und auf keinen Fall weinen,
wenn Lewerenz wieder zuschlug. Aus reiner Gewohnheit studierte ich zuerst die Männer. Uwe Bergander sah auf eine Art gut aus, bürgerlich und elegant; ich gesellte mich beiläufig zu ihm. Der junge
Mann war neu beim Verlag, hatte gerade ein Buch veröffentlicht. Die ziehen alle an mir vorbei, und ich bin schon seit ´76 beim Verlag. Bergander rauchte Pfeife. Nach dem Mittag folgte die
Begrüßung im Salon und ein Vortrag von Dr. Wolfgang Herzig, dessen Beruf Historiker ist. Etwa dreißig Autorinnen, Autoren, Lektoren und Redakteure saßen in den Sesseln, die zu einem großen Kreis
aufgestellt waren. Maja saß neben mir auf der einen Seite, Bergander auf der anderen; und während der Eröffnungsrede von Lewerenz betrachtete ich die ganze Gemeinschaft. Zwei Frauen fielen aus
dem Rahmen. Eine Jugendbuchautorin mit kastanienbraunem lockigem langen Haar und einem roten Wollkleid, und eine etwa vierzigjährige große Frau, herb und interessant. Bergander flüsterte, es sei
Jutta Schlott. Den Namen hatte ich schon gehört. Gisela Adam hatte mich euphorisch begrüßt und gesagt, ich sähe süß aus. Ich hatte mir zwei Zöpfe geflochten und die dunkelblaue Latzhose
angezogen. Als ich Jutta Schlott mit dem Kleid und die weibliche Jugendbuchautorin betrachtete, kam mir meine eigene Aufmachung albern vor. Und nun, mitten im Vortrag von Wolfgang Herzig, ging
die weiße Flügeltür auf und ein junger Mann trat ein. Alle sahen zu ihm. Und mir stockte das Herz. Er war blond, groß und schön. Im selben Moment die Gewissheit: Die beiden Schönen in der Runde
dachten dasselbe wie ich: Endlich ein Mann.
Als er vom Cheflektor vorgestellt wurde, war ich noch einmal überrascht: Erhard M. Ich kannte den Namen, weil er genau wie ich beim Sonntag für die Feuilleton-Seite schreibt, mich aber nie
interessiert hat, denn der Name Erhard klingt ja wohl alt und verstaubt.
Zum Abendbrot setzte er sich an unseren Tisch, obwohl wir vollzählig waren und er sich einen Stuhl heran ziehen musste. Als er mir einen Spaziergang um den See herum vorschlug, schüttelte
ich den Kopf. “Ich wohne auf dem Lande”, sagte ich. “Ich brauche keine frische Luft.”
“Aber ein bisschen Romantik kann doch niemandem schaden”, sagte er.
“Mir aber doch.” Ich blieb hart. “Ich wohne im Dorf der Königin Luise, falls dir das was sagt. Ich möchte hier nicht noch mehr Romantik.”
Er seufzte. “Dann gehe ich mit anderen Frauen.”
“Tu das”, sagte ich.
Tatsächlich ging er mit Jutta Schlott und irgendwelchen Leuten los. Allerdings hatte ich in einer Pause, in der ich mich bei Bergander aufhielt, mitbekommen, dass Erhard M. und Jutta
Schlott sich bereits kannten. Das machte sie für ihn möglicherweise weniger attraktiv, aber Vorsicht, vielleicht waren sie doch noch nicht im Bett. Am nächsten Vormittag meine Lesung.
Anschließend wartete Lewerenz wie üblich das Ende der Diskussion ab, um sein Urteil zu verkünden: “Es stimmten sogar die Konjunktive”, sagte er. “Ansonsten habe ich die Geschichte nicht
verstanden.”
Ich blickte ihn ruhig an, froh, dass die Prüfung vorbei war. In der Pause kam Erhard zu mir.
Ich saß mit Maja, Adam und einigen anderen am Rauchertisch. Er legte mir einen Apfel auf den Tisch.
“Ich esse kein Obst”, sagte ich.
Er lächelte unbeirrt.
“Nimm diesen Apfel an”, befahl er.
Ich blickte zu ihm hoch. “Ich wohne inmitten einer Apfelplantage”, sagte ich.
„Ja klar, Königin Luise.“
„Diese Frau macht mich wahnsinnig”, setzte er leise hinzu und ging.
Am Abend wurde wie am Vorabend der Kamin befeuert. Alle Leute saßen, liefen oder standen herum, tranken Wein, Bier und redeten.
Gisela Adam und Maja hatten die Flirtversuche aufmerksam verfolgt. Nachts im Zimmer sagte Maja:
“ Pass auf bei dem, der macht das immer so.“
„Keine Sorge“, sagte ich. “Ich mache das auch immer so.“
Jeden Tag saß Erhard tapfer und flirtete mit Jutta Schlott.
Den kriege ich, soviel ist klar, dachte ich, aber ich werde mich nicht verlieben.
Am letzten Tag ließ er uns alle wissen, dass seine Frau morgen dreißig wird und er in Werder dreißig Rosen bestellt habe, die er abholen müsse. Alle Achtung, dreißig Rosen im November,
dachte ich, das würde Wolfgang nie in den Sinn kommen.
Am Abend das übliche Abschlussbuffet. Die lange Rede des Chefs, während einem das Wasser im Mund zusammenlief. Früchte und Fleisch, zarter Schinken, verschiedene Käsesorten, Schüsseln mit
Krabben-, Geflügel-, Heringssalat. Endlich anstoßen mit Wein und die Teller voll packen, essen, quatschen. Der Kamin brannte. Ich langweilte mich mit Bergander.
Erhard hielt sich auffällig allein.
Risiko, dachte ich. So früh verließ ich sonst nie eine Abendgesellschaft.
Im Zimmer hatte ich ein Problem. Sollte ich nackt ins Bett gehen oder mit Nachthemd? Sollte ich das Licht anlassen und lesen oder im Dunkeln warten. Mein Nachthemd war aus Omas Zeiten.
Weißes Leinen mit Spitze. Probehalber zog ich es an, setzte mich mit angezogenen Beinen auf den Tisch und grübelte. Da klopfte es schon. ‚Ach du grüne Neune.’
„Herein.“
Verlegen stand er in der Tür, hielt eine Rose in der Hand und sagte: „Ich muss morgen ganz früh los.“
„Ich weiß“, sagte ich.
Nach ungefähr einer halben Stunde war ich verliebt. Wir gingen wieder in den Salon. Erst er, kurze Zeit später ich. Wir saßen getrennt. Maja, Adam und Jutta Schlott ließen sich nichts
anmerken. Die Frau von Lewerenz, die auch als Lektorin arbeitet, außerdem jeden Abend für Sauberkeit und Ordnung sorgte, machte ihren letzten Gang übers Parkett. Sie fand etwas und rief quer
durch den Saal: „Herr Berg-Ander, Ihre Pfeife!“
Schallendes Gelächter.
Frau Lewerenz sah in die Runde.
„Was ist denn daran so lustig?“
Am Morgen war Erhard weg, mit neunundzwanzig Rosen.